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Das abendländische Gespräch

lernen, daß auch der Sänger, und er reiner noch als wir es vermögen, zögert im Sagen des Geschicklichen. Hör nur auf das Klingen der ersten Strophe des Ister-Gesanges.

D.Ä. Ich weiß es. Wir haben die einzelnen Verse und ihren Zusammenhang bedacht. Gleichwohl hören wir noch nicht den verhaltenen Ton der Strophe, der ihr wohl gehört, weil sie doch jenes zögernde Kommen des Geschickes singt, dem der Gesang selbst und die Sänger folgen.

D.J. Die erste Strophe sagt noch nicht, daß die Fernangekommenen am Ister bauen wollen.


Nicht ohne Schwingen mag
Zum nächsten einer greifen
Geradezu
Und kommen auf die andere Seite.
Hier aber wollen wir bauen.
Denn Ströme machen urbar
Das Land.


D.Ä. Das »Hier« nennt nach dem unmittelbar voraufgehenden Vers die andere Seite als den Ort des Bauens. Der unmittelbar folgende Vers sagt, daß dieses »Hier« durch einen Strom bestimmt sei, aber nicht, durch welchen.

D.J. Daß der Name des Stroms noch ungesagt bleibt, sagt jedoch, es sei wohl von besonderer Bedeutung, zuvor das Wesen der Ströme und des Stromes zu bedenken, wozu ja die letzten Verse der Strophe helfen.

D.Ä. Dies aber auch nur in allgemeinen Hinweisen, die das nicht nennen, was Hölderlin alles um diese Zeit vom Wesen der Ströme dichtete.

D.J. Insgleichen nennt er die »andere Seite« und den Übergang von der einen zur anderen, ohne deutlich zu sagen, was er selbst weiß und was wir voreilend deuteten, indem wir das Geschick des Geistes durchdachten, der »Kolonie liebend« sein zu Haus sucht bei den Blumen und Schatten der Wälder,


Martin Heidegger (GA 75) Zu Hölderlin - Griechenlandreisen

GA 75