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Aber die Thronen, wo? die Tempel, und wo die Gefäße,

Wo mit Nectar gefüllt, Göttern zu Lust der Gesang?

Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche?

Delphi schlummert und wo tönet das große Geschick?

Brod und Wein, 4. Strophe.


Dieses aus einer großen Verlassenheit aufsteigende, schmerzlich rufende »Wo?« — was sucht dieses Fragen? Was erblickt der Dichter im Rufen? Die Flucht der Götter und mit ihr die Verödung des Wohnens der Menschen, das Leere ihrer Werke, das Vergebliche ihrer Taten. Dabei wagt sich der Blick in das gewesene Griechenland ohne die Stütze einer wirklichen Erfahrung der Inselwelt. Weshalb bedurfte Hölderlin einer solchen Erfahrung nicht? Vielleicht, weil er noch weiter vorausblickte in die Ankunft des kommenden Gottes, so daß erst im Raum dieses Vorblickes das Gewesene die ihm eigene Gegenwart erlangte. Dann entsprang das dichterische Rufen keineswegs einer bloßen Verlassenheit, sondern der alle Not überspringenden Zuversicht auf ein Kommendes? Dieses naht sich nur und währt für ein inständiges Rufen. Hören wir Heutigen noch den Ruf? Verstehen wir, daß solches Hören ein Mitrufen sein muß — vollends gar in einer Menschenwelt, die am Rand der Selbstzerstörung entlang rast, deren Machenschaften jedes Rufen überlärmt und ins Nichtige abdrängt?


Zu solcher Zeit regt sich inmitten des Aussichtlosen die Vermutung auf eine Sicht, die zu bestehen einen noch weiter reichenden Vorblick verlangt. Also ein Übertreffen des Dichters? Niemals. Was hier weiter reicht als sein Wort, ist zugleich geringer als dieses, zugleich aber zuvor das Nötigste für uns: daß sich erst öffne, weite und füge der Bereich, darin ein Kommen des Gottes gewährt und Nachtwache für die Feier seiner Ankunft vorbereitet werden kann.

Wie sollen wir diesen Bereich der Erwartung finden? Nur dadurch, daß wir, statt Müßiges zu erfinden, ihn suchen? Wer zeigt


Martin Heidegger (GA 75) Zu Hölderlin - Griechenlandreisen

GA 75