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Einübung in das philosophische Denken

Descartes geht von den Dingen aus, die nach der geläufigen Meinung unter allen am deutlichsten erfaßt werden, den Körpern im besonderen. Er wählt als Beispiel ein Stück frisches Wachs.

Dies besitzt bestimmten Geschmack, Geruch, bestimmte Form und Härte und ein genau angebbares Volumen. Alles ist an ihm anwesend, was gefordert zu werden scheint, damit irgend ein Körper möglichst deutlich erkannt werden kann. Aber alle diese Eigenschaften erleiden tiefgehendste Umwandlungen, wird das Wachs ans Feuer gebracht. Geschmack, Geruch und Härte verschwinden, Form und Ausdehnung ändern sich. Und trotzdem: zurück bleibt dasselbe Wachs. Zum Wesen des Wachses gehört also alles dieses, was im Betracht der Sinne liegt, nicht. Alles das sinnliche Wahrnehmbare ist nur die stets veränderungsfähige Weise, in welcher sich der Wesensträger darstellt. Was bleibt dann noch übrig? Ein Ausgedehntes, Biegsames, Veränderliches. »Kann dies, wenn schon nicht durch die Sinne, so doch durch die Einbildungskraft begriffen werden?«, fragt sich Descartes nun, und auch hier muß er mit »Nein« antworten, denn die Einbildungskraft kann sich nur eine endliche Anzahl Veränderungen dieses Ausgedehnten, Biegsamen, Veränderlichen vorstellen, möglich aber sind unendlich viele. »Es bleibt also nur dies« — das ist der Schluß des Descartes — »einzugestehen, daß ich das, was das Wachs sei, als Seiendes selbst, nicht in der Weise der Einbildungskraft ausmache, sondern einzig nur im Verstand fasse.« Dieses Erfassen als eine Einsichtnahme des Denkens ist weder sinnliche Wahrnehmung noch Einbildung. So ist es immer, und der Unterschied der Erkenntnis ruht einzig darin, ob sie verworren ist, also ob sie sich für Sehen, Schmecken, Fühlen hält, oder ob sie um die Art ihrer Einsichtnahme bewußt weiß.

Diese Form der Erkenntnis aber, unzugänglich der sinnbedingten Empfindung und hinausgehend auch über die weiteste Einbildungskraft, nur vom Verstande begriffen, dies ist die Mathematik. Nur in der Mathematik wird das unübersehbar Vielfältige in einem Gesetz erfaßt und somit das Wesentliche klargestellt. Nur in ihr tritt die Grundlage der sich in steter Wandlung befindlichen


Martin Heidegger (GA 88) Seminare (Übungen) 1937-38 und 1941-42

GA 88