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2. Der Begriff »Sein« ist undefinierbar. Dies schloß man aus seiner höchsten Allgemeinheit.1 Und das mit Recht – wenn definitio fit per genus proximum et differentiam specificam. »Sein« kann in der Tat nicht als Seiendes begriffen werden; enti non additur aliqua natura: »Sein« kann nicht so zur Bestimmtheit kommen, daß ihm Seiendes zugesprochen wird. Das Sein ist definitorisch aus höheren Begriffen nicht abzuleiten und durch niedere nicht darzustellen. Aber folgt hieraus, daß »Sein« kein Problem mehr bieten kann? Mitnichten; gefolgert kann nur werden: »Sein« ist nicht so etwas wie Seiendes. Daher ist die in gewissen Grenzen berechtigte Bestimmungsart von Seiendem – die »Definition« der traditionellen Logik, die selbst ihre Fundamente in der antiken Ontologie hat – auf das Sein nicht anwendbar. Die Undefinierbarkeit des Seins dispensiert nicht von der Frage nach seinem Sinn, sondern fordert dazu gerade auf.

3. Das »Sein« ist der selbstverständliche Begriff. In allem Erkennen, Aussagen, in jedem Verhalten zu Seiendem, in jedem Sich-zu-sich-selbst-verhalten wird von »Sein« Gebrauch gemacht, und der Ausdruck ist dabei »ohne weiteres« verständlich. Jeder versteht: »Der Himmel ist blau«; »ich bin froh« und dgl. Allein diese durchschnittliche Verständlichkeit demonstriert nur die Unverständlichkeit. Sie macht offenbar, daß in jedem Verhalten und Sein zu Seiendem als Seiendem a priori ein Rätsel liegt. Daß wir je schon in einem Seinsverständnis leben und der Sinn von Sein zugleich in Dunkel gehüllt ist, beweist die grundsätzliche Notwendigkeit, die Frage nach dem Sinn von »Sein« zu wiederholen.

Die Berufung auf Selbstverständlichkeit im Umkreis der philosophischen Grundbegriffe und gar im Hinblick auf den Begriff »Sein« ist ein zweifelhaftes Verfahren, wenn anders das »Selbstverständliche« und nur es, »die geheimen Urteile der gemeinen Vernunft« (Kant), ausdrückliches Thema der Analytik (»der Philosophen Geschäft«) werden und bleiben soll.

Die Erwägung der Vorurteile machte aber zugleich deutlich, daß nicht nur die Antwort fehlt auf die Frage nach dem Sein, sondern daß sogar die Frage selbst dunkel und richtungslos ist. Die Seinsfrage wiederholen besagt daher: erst einmal die Fragestellung zureichend ausarbeiten.



1 Vgl. Pascal, Pensées et Opuscules (ed. Brunschvicg) 6, Paris 1912, S. 169: On ne peut entreprendre de définir l’être sans tomber dans cette absurdité: car on ne peut définir un mot sans commencer par celui-ci, c’est, soit qu’on l’exprime ou qu’on le sous-entende. Donc pour définir l’être, il faudrait dire c’est, et ainsi employer le mot défini dans sa définition.


Martin Heidegger - Sein und Zeit