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Anthropologie gewinnt von hier aus unter Mitaufnahme der antiken Definition eine Auslegung des Seienden, das wir Mensch nennen. Aber gleichwie das Sein Gottes ontologisch mit den Mitteln der antiken Ontologie interpretiert wird, so erst recht das Sein des ens finitum. Die christliche Definition wurde im Verlauf der Neuzeit enttheologisiert. Aber die Idee der »Transzendenz«, daß der Mensch etwas sei, das über sich hinauslangt, hat ihre Wurzeln in der christlichen Dogmatik, von der man nicht wird sagen wollen, daß sie das Sein des Menschen je ontologisch zum Problem gemacht hätte. Diese Transzendenzidee, wonach der Mensch mehr ist als ein Verstandeswesen, hat sich in verschiedenen Abwandlungen ausgewirkt. Ihre Herkunft mag an den folgenden Zitaten illustriert sein: »His praeclaris dotibus excelluit prima hominis conditio, ut ratio, intelligentia, prudentia, iudicium non modo ad terrenae vitae gubernationem suppeterent, sed quibus transcenderet usque ad Deum et aeternam felicitatem«1 »Denn daß der mensch sin ufsehen hat uf Gott und sin wort, zeigt er klarlich an, daß er nach siner natur etwas Gott näher anerborn, etwas mee nachschlägt, etwas zuzugs zu im hat, das alles on zwyfel darus flüßt, daß er nach der bildnus Gottes geschaffen ist.«2

Die für die traditionelle Anthropologie relevanten Ursprünge, die griechische Definition und der theologische Leitfaden, zeigen an, daß über einer Wesensbestimmung des Seienden »Mensch« die Frage nach dessen Sein vergessen bleibt, dieses Sein vielmehr als »selbstverständlich« im Sinne des Vorhandenseins der übrigen geschaffenen Dinge begriffen wird. Diese beiden Leitfäden verschlingen sich in der neuzeitlichen Anthropologie mit dem methodischen Ausgang von der res cogitans, dem Bewußtsein, Erlebniszusammenhang. Sofern aber auch die cogitationes ontologisch unbestimmt bleiben, bzw. wiederum unausdrücklich »selbstverständlich« als etwas »Gegebenes« genommen werden, dessen »Sein« keiner Frage untersteht, bleibt die anthropologische Problematik in ihren entscheidenden ontologischen Fundamenten unbestimmt.

Dasselbe gilt nicht minder von der »Psychologie«, deren anthropologische Tendenzen heute unverkennbar sind. Das fehlende ontologische Fundament kann auch nicht dadurch ersetzt werden, daß man Anthropologie und Psychologie in eine allgemeine Biologie einbaut. In der Ordnung des möglichen Erfassens und Auslegens ist die Biologie als »Wissenschaft vom Leben« in der Ontologie des Daseins fundiert,



1 Calvin, Institutio I, 15, § 8.

2 Zwingli, Von der Klarheit des Wortes Gottes. (Deutsche Schriften I, 56).


Martin Heidegger - Sein und Zeit