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den der Welt das sein eigentliches Sein aus, von dem gezeigt werden kann, daß es den Charakter des ständigen Verbleibs hat, als remanens capax mutationum. Eigentlich ist das immerwährend Bleibende. Solches erkennt die Mathematik. Was durch sie am Seienden zugänglich ist, macht dessen Sein aus. So wird aus einer bestimmten Idee von Sein, die im Begriff der Substanzialität eingehüllt liegt, und aus der Idee einer Erkenntnis, die so Seiendes erkennt, der »Welt« ihr Sein gleichsam zudiktiert. Descartes läßt sich nicht die Seinsart des innerweltlichen Seienden von diesem vorgeben, sondern auf dem Grunde einer in ihrem Ursprung unenthüllten, in ihrem Recht unausgewiesenen Seinsidee (Sein = ständige Vorhandenheit) schreibt er der Welt gleichsam ihr »eigentliches« Sein vor. Es ist also nicht primär die Anlehnung an eine zufällig besonders geschätzte Wissenschaft, die Mathematik, was die Ontologie der Welt bestimmt, sondern die grundsätzlich ontologische Orientierung am Sein als ständiger Vorhandenheit, dessen Erfassung mathematische Erkenntnis in einem ausnehmenden Sinne genügt. Descartes vollzieht so philosophisch ausdrücklich die Umschaltung der Auswirkung der traditionellen Ontologie auf die neuzeitliche mathematische Physik und deren transzendentale Fundamente.

Descartes braucht das Problem des angemessenen Zugangs zum innerweltlichen Seienden nicht zu stellen. Unter der ungebrochenen Vorherrschaft der traditionellen Ontologie ist über die echte Erfassungsart des eigentlichen Seienden im vorhinein entschieden. Sie liegt im νοεῖν, der »Anschauung« im weitesten Sinne, davon das διανοειν, das »Denken«, nur eine fundierte Vollzugsform ist. Und aus dieser grundsätzlichen ontologischen Orientierung heraus gibt Descartes seine »Kritik« der noch möglichen anschauend vernehmenden Zugangsart zu Seiendem, der sensatio (αἴσθησις) gegenüber der intellectio.

Descartes weiß sehr wohl darum, daß das Seiende sich zunächst nicht in seinem eigentlichen Sein zeigt. »Zunächst« gegeben ist dieses bestimmt gefärbte, schmeckende, harte, kalte, tönende Wachsding. Aber dieses und überhaupt das, was die Sinne geben, bleibt ontologisch ohne Belang. Satis erit, si advertamus sensuum perceptiones non referri, nisi ad istam corporis humani cum mente coniunctionem, et nobis quidem ordinarie exhibere, quid ad illam externa corpora prod-esse possint aut nocere.1 Die Sinne lassen überhaupt nicht Seiendes in seinem Sein erkennen, sondern sie melden lediglich Nützlichkeit und Schädlichkeit der »äußeren« innerweltlichen Dinge für das leibbehaftete Menschenwesen.



1 a. a. O. II, n. 3, S. 41.


Martin Heidegger - Sein und Zeit