125

Daseins zu ihm selbst das Sein zu einem Anderen sei, trifft nicht zu. Solange diese Voraussetzung sich nicht evident in ihrer Rechtmäßigkeit erwiesen hat, so lange bleibt es rätselhaft, wie sie das Verhältnis des Daseins zu ihm selbst dem Anderen als Anderem erschließen soll.

Das Sein zu Anderen ist nicht nur ein eigenständiger, irreduktibler Seinsbezug, er ist als Mitsein mit dem Sein des Daseins schon seiend. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß das auf dem Grunde des Mitseins lebendige Sich-gegenseitig-kennen oft abhängig ist davon, wie weit das eigene Dasein jeweilig sich selbst verstanden hat; das besagt aber nur, wie weit es das wesenhafte Mitsein mit anderen sich durchsichtig gemacht und nicht verstellt hat, was nur möglich ist, wenn Dasein als In-der-Welt-sein je schon mit Anderen ist. »Einfühlung« konstituiert nicht erst das Mitsein, sondern ist auf dessen Grunde erst möglich und durch die vorherrschenden defizienten Modi des Mitseins in ihrer Unumgänglichkeit motiviert.

Daß die »Einfühlung« kein ursprüngliches existenziales Phänomen ist, so wenig wie Erkennen überhaupt, besagt aber nicht, es bestehe bezüglich ihrer kein Problem. Ihre spezielle Hermeneutik wird zu zeigen haben, wie die verschiedenen Seinsmöglichkeiten des Daseins selbst das Miteinandersein und dessen Sichkennen mißleiten und verbauen, so daß ein echtes »Verstehen« niedergehalten wird und das Dasein zu Surrogaten die Zuflucht nimmt; welche positive existenziale Bedingung rechtes Fremdverstehen für seine Möglichkeit voraussetzt. Die Analyse hat gezeigt: Das Mitsein ist ein existenziales Konstituens des In-der-Weltseins. Das Mitdasein erweist sich als eigene Seinsart von innerweltlich begegnendem Seienden. Sofern Dasein überhaupt ist, hat es die Seinsart des Miteinanderseins. Dieses kann nicht als summatives Resultat des Vorkommens mehrerer »Subjekte« begriffen werden. Das Vorfinden einer Anzahl von »Subjekten« wird selbst nur dadurch möglich, daß die zunächst in ihrem Mitdasein begegnenden Anderen lediglich noch als »Nummern« behandelt werden. Solche Anzahl wird nur entdeckt durch ein bestimmtes Mit- und Zu-einandersein. Dieses »rücksichtslose« Mitsein »rechnet« mit den Anderen, ohne daß es ernsthaft »auf sie zählt« oder auch nur mit ihnen »zu tun haben« möchte.

Das eigene Dasein ebenso wie das Mitdasein Anderer begegnet zunächst und zumeist aus der umweltlich besorgten Mitwelt. Das Dasein ist im Aufgehen in der besorgten Welt, das heißt zugleich im Mitsein zu den Anderen, nicht es selbst. Wer ist es denn, der das Sein als alltägliches Miteinandersein übernommen hat?


Martin Heidegger - Sein und Zeit