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        wird nur entdeckbar auf dem Grunde der Erschlossenheit einer
        Möglichkeit ihrer. Ist es Zufall, daß die Frage nach dem Sein von
        Natur auf die »Bedingungen ihrer Möglichkeit« zielt? Worin
        gründet solches Fragen? Ihm selbst gegenüber kann die Frage
        nicht ausbleiben: warum ist nichtdaseinsmäßiges Seiendes in
        seinem Sein verstanden, wenn es auf die Bedingungen seiner
        Möglichkeit hin erschlossen wird? Kant setzt dergleichen vielleicht
        mit Recht voraus. Aber diese Voraussetzung selbst kann
        am allerwenigsten in ihrem Recht unausgewiesen bleiben.
        Warum dringt das Verstehen nach allen wesenhaften Dimensionen
        des in ihm Erschließbaren immer in die Möglichkeiten?
        Weil das Verstehen an ihm selbst die existenziale Struktur hat,
        die wir den Entwurf nennen. Es entwirft das Sein des Daseins auf
        sein Worumwillen ebenso ursprünglich wie auf die Bedeutsamkeit
        als die Weltlichkeit seiner jeweiligen Welt. Der Entwurfcharakter
        des Verstehens konstituiert das In-der-Welt-sein hinsichtlich
        der Erschlossenheit seines Da als Da eines Seinkönnens. Der
        Entwurf ist die existenziale Seinsverfassung des Spielraums des
        faktischen Seinkönnens. Und als geworfenes ist das Dasein in die
        Seinsart des Entwerfens geworfen. Das Entwerfen hat nichts zu
        tun mit einem Sichverhalten zu einem ausgedachten Plan, gemäß
        dem das Dasein sein Sein einrichtet, sondern als Dasein hat es
        sich je schon entworfen und ist, solange es ist, entwerfend.
        Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist,
        aus Möglichkeiten. Der Entwurfcharakter des Verstehens besagt
        ferner, daß dieses das, woraufhin es entwirft, die Möglichkeiten,
        selbst nicht thematisch erfaßt. Solches Erfassen benimmt dem
        Entworfenen gerade seinen Möglichkeitscharakter, zieht es herab
        zu einem gegebenen, gemeinten Bestand, während der Entwurf
        im Werfen die Möglichkeit als Möglichkeit sich vorwirft und als
        solche sein läßt. Das Verstehen ist, als Entwerfen, die Seinsart des
        Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist.
        Auf dem Grunde der Seinsart, die durch das Existenzial des
        Entwurfs konstituiert wird, ist das Dasein ständig »mehr«, als es
        tatsächlich ist, wollte man es und könnte man es als Vorhandenes
        in seinem Seinsbestand registrieren. Es ist aber nie mehr, als es
        faktisch ist, weil zu seiner Faktizität das Seinkönnen wesenhaft
        gehört. Das Dasein ist aber als Möglichsein auch nie weniger, das
        heißt das, was es in seinem Seinkönnen noch nicht ist, ist es existenzial.
        Und nur weil das Sein des Da durch das Verstehen und
        dessen Entwurfcharakter seine Konstitution erhält, weil es ist,
        was es wird bzw. nicht wird, kann es verstehend ihm selbst
        sagen: »werde, was du bist!«.

Martin Heidegger - Sein Und Zeit