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        Der Ausdruck »Sicht« muß freilich vor einem Mißverständnis
        bewahrt bleiben. Er entspricht der Gelichtetheit, als welche wir
        die Erschlossenheit des Da charakterisierten. Das »Sehen« meint
        nicht nur nicht das Wahrnehmen mit den leiblichen Augen, sondern
        auch nicht das pure unsinnliche Vernehmen eines Vorhandenen
        in seiner Vorhandenheit. Für die existenziale Bedeutung
        von Sicht ist nur die Eigentümlichkeit des Sehens in Anspruch
        genommen, daß es das ihm zugänglich Seiende an ihm selbst
        unverdeckt begegnen läßt. Das leistet freilich jeder »Sinn« innerhalb
        seines genuinen Entdeckungsbezirkes. Die Tradition der
        Philosophie ist aber von Anfang an primär am »Sehen« als
        Zugangsart zu Seiendem und zu Sein orientiert. Um den Zusammenhang
        mit ihr zu wahren, kann man Sicht und Sehen so weit
        formalisieren, daß damit ein universaler Terminus gewonnen
        wird, der jeden Zugang zu Seiendem und zu Sein als Zugang
        überhaupt charakterisiert.
        Dadurch, daß gezeigt wird, wie alle Sicht primär im Verstehen
        gründet – die Umsicht des Besorgens ist das Verstehen als Verständigkeit
        –, ist dem puren Anschauen sein Vorrang genommen,
        der noetisch dem traditionellen ontologischen Vorrang des Vorhandenen
        entspricht. »Anschauung« und »Denken« sind beide
        schon entfernte Derivate des Verstehens. Auch die phänomenologische
        »Wesensschau« gründet im existenzialen Verstehen. Über
        diese Art des Sehens darf erst entschieden werden, wenn die
        expliziten Begriffe von Sein und Seinsstruktur gewonnen sind, als
        welche einzig Phänomene im phänomenologischen Sinne werden
        können.
        Die Erschlossenheit des Da im Verstehen ist selbst eine Weise
        des Seinkönnens des Daseins. In der Entworfenheit seines Seins
        auf das Worumwillen in eins mit der auf die Bedeutsamkeit
        (Welt) liegt Erschlossenheit von Sein überhaupt. Im Entwerfen
        auf Möglichkeiten ist schon Seinsverständnis vorweggenommen.
        Sein ist im Entwurf verstanden, nicht ontologisch begriffen.
        Seiendes von der Seinsart des wesenhaften Entwurfs des In-der-
        Welt-seins hat als Konstitutivum seines Seins das Seinsverständnis.
        Was früher 1 dogmatisch angesetzt wurde, erhält jetzt seine
        Aufweisung aus der Konstitution des Seins, in dem das Dasein als
        Verstehen sein Da ist. Eine den Grenzen dieser ganzen Untersuchung
        entsprechend befriedigende Aufklärung des existenzialen
        Sinnes dieses Seinsverständnisses wird erst auf Grund der temporalen
        Seinsinterpretation erreicht werden können.

        1 Vgl. § 4, S. 11 ff.