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vor jeder Aussage über Verderbnis und Unverdorbenheit liegt. Das Verfallen ist ein ontologischer Bewegungsbegriff. Ontisch wird nicht entschieden, ob der Mensch »in der Sünde ersoffen«, im Status corruptionis ist, ob er im Status integritatis wandelt oder sich in einem Zwischenstadium, dem Status gratiae, befindet. Glaube und »Weltanschauung« werden aber, sofern sie so oder so aussagen, und wenn sie über Dasein als In-der-Welt-sein aussagen, auf die herausgestellten existenzialen Strukturen zurückkommen müssen, vorausgesetzt, daß ihre Aussagen zugleich auf begriffliches Verständnis einen Anspruch erheben.

Die leitende Frage dieses Kapitels ging nach dem Sein des Da. Thema wurde die ontologische Konstitution der zum Dasein wesentlich gehörenden Erschlossenheit. Ihr Sein konstituiert sich in Befindlichkeit, Verstehen und Rede. Die alltägliche Seinsart der Erschlossenheit wird charakterisiert durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit. Diese selbst zeigen die Bewegtheit des Verfallens mit den wesenhaften Charakteren der Versuchung, Beruhigung, Entfremdung und des Verfängnisses.

Mit dieser Analyse ist aber das Ganze der existenzialen Verfassung des Daseins in den Hauptzügen freigelegt und der phänomenale Boden gewonnen für die »zusammenfassende« Interpretation des Seins des Daseins als Sorge.


Sechstes Kapitel Die Sorge als Sein des Daseins


§ 39. Die Frage nach der ursprünglichen Ganzheit des Strukturganzen des Daseins


Das In-der-Welt-sein ist eine ursprünglich und ständig ganze Struktur. In den voranstehenden Kapiteln (1. Abschnitt Kap. 2-5) wurde sie als Ganzes und, immer auf diesem Grunde, in ihren konstitutiven Momenten phänomenal verdeutlicht. Der zu Anfang1 gegebene Vorblick auf das Ganze des Phänomens hat jetzt die Leere der ersten allgemeinen Vorzeichnung verloren. Allerdings kann nun die phänomenale Vielfältigkeit der Verfassung des Strukturganzen und seiner alltäglichen Seinsart den einheitlichen phänomenologischen Blick auf das Ganze als solches leicht verstellen. Dieser muß aber um so freier bleiben und um so sicherer bereitgehalten werden, als wir jetzt die



1 Vgl. § 12, S. 52 ff.


Martin Heidegger - Sein Und Zeit