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ihm seien, durch »die Sachen selbst« geführt, zum Weiterfragen gezwungen worden: αὺτὸ τὸ πρᾶγμα ὡδοποίησεν αὐτοις καὶ συνηάγκαδε ζητειν1. Dieselbe Tatsache kennzeichnet er auch durch die Worte: ἁναγκαζόμενος δ' ἀκολουθειν τοις φαινομένοις2, er (Parmenides) war gezwungen, dem zu folgen, was sich an ihm selbst zeigte. An anderer Stelle wird gesagt: ὑπ' αὐτῆς τῆς ἀληθείας ἀναγκαζόμενοι3, von der »Wahrheit« selbst gezwungen, forschten sie. Aristoteles bezeichnet dieses Forschen als φιλοσοφειν περὶ τῆς ἀληθείας4, »philosophieren« über die »Wahrheit«, oder auch ἀποφαίνεσθαι περὶ τῆς ἀληθείας5, aufweisendes Sehenlassen mit Rücksicht auf und im Umkreis der »Wahrheit«. Philosophie selbst wird bestimmt als ἐπιστήμη τις τῆς ἀληθείας6, Wissenschaft von der »Wahrheit«. Zugleich aber ist sie charakterisiert als eine ἐπιστήμη, ἣθεόρει τὸ ὄν ᾗ ὄν7, als Wissenschaft, die das Seiende betrachtet als Seiendes, das heißt hinsichtlich seines Seins.

Was bedeutet hier »forschen über die ›Wahrheit‹«, Wissenschaft von der »Wahrheit«? Wird in diesem Forschen die »Wahrheit« zum Thema gemacht im Sinne einer Erkenntnis- oder Urteilstheorie? Offenbar nicht, denn »Wahrheit« bedeutet dasselbe wie »Sache«, »Sichselbstzeigendes«. Was bedeutet dann aber der Ausdruck »Wahrheit«, wenn er terminologisch als »Seiendes« und »Sein« gebraucht werden kann?

Wenn Wahrheit aber mit Recht in einem ursprünglichen Zusammenhang mit Sein steht, dann rückt das Wahrheitsphänomen in den Umkreis der fundamentalontologischen Problematik. Muß dann aber dieses Phänomen nicht auch schon innerhalb der vorbereitenden Fundamentalanalyse, der Analytik des Daseins, begegnen? In welchem ontisch-ontologischen Zusammenhang steht »Wahrheit« mit dem Dasein und dessen ontischer Bestimmtheit, die wir Seinsverständnis nennen? Läßt sich aus diesem der Grund aufzeigen, warum Sein notwendig mit Wahrheit und diese mit jenem zusammengeht?

Diesen Fragen ist nicht auszuweisen. Weil Sein in der Tat mit Wahrheit »zusammengeht«, hat das Wahrheitsphänomen denn auch schon im Thema der früheren Analysen gestanden, wenngleich nicht ausdrücklich unter diesem Titel. Nunmehr gilt es, mit Rücksicht auf die Zuspitzung des Seinsproblems das Wahrheitsphänomen ausdrücklich zu umgrenzen und die darin beschlossenen Probleme zu fixieren.



1 a. a. O. 984a 18 sq.

2 a. a. O. 986b 31.

3 a. a. O. 984b 10.

4 a. a. O. 983 b 2, vgl. 988 a 20.

5 a. a. O. α 1, 993 b 17.

6 a. a. O. 993 b 20.

7 a. a. O. Γ 1, 1003 a 21.


Martin Heidegger - Sein und Zeit