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Zweiter Abschnitt

Dasein und Zeitlichkeit


§ 45. Das Ergebnis der vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins und die Aufgabe einer ursprünglichen existenzialen Interpretation dieses Seienden


Was wurde durch die vorbereitende Analyse des Daseins gewonnen, und was ist gesucht? Gefunden haben wir die Grundverfassung des thematischen Seienden, das In-der-Welt-sein, dessen wesenhafte Strukturen in der Erschlossenheit zentrieren. Die Ganzheit dieses Strukturganzen enthüllte sich als Sorge. In ihr liegt das Sein des Daseins beschlossen. Die Analyse dieses Seins nahm zum Leitfaden, was vorgreifend als das Wesen des Daseins bestimmt wurde, die Existenz1. Der Titel besagt in formaler Anzeige: das Dasein ist als verstehendes Seinkönnen, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht. Das Seiende, dergestalt seiend, bin je ich selbst. Die Herausarbeitung des Phänomens der Sorge verschaffte einen Einblick in die konkrete Verfassung der Existenz, das heißt in ihren gleichursprünglichen Zusammenhang mit der Faktizität und dem Verfallen des Daseins.

Gesucht wird die Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt und vordem die Möglichkeit einer radikalen Ausarbeitung dieser Grundfrage aller Ontologie. Die Freilegung des Horizontes aber, in dem so etwas wie Sein überhaupt verständlich wird, kommt gleich der Aufklärung der Möglichkeit des Seinsverständnisses überhaupt, das selbst zur Verfassung des Seienden gehört, das wir Dasein nennen2. Seinsverständnis läßt sich als wesenhaftes Seinsmoment des Daseins jedoch nur dann radikal aufklären, wenn das Seiende, zu dessen Sein es gehört, an ihm selbst hinsichtlich seines Seins ursprünglich interpretiert ist.

Dürfen wir die ontologische Charakteristik des Daseins qua Sorge als eine ursprüngliche Interpretation dieses Seienden in Anspruch nehmen? An welchem Richtmaß soll die existenziale Analytik des Daseins auf ihre Ursprünglichkeit bzw. Nichtursprünglichkeit abgeschätzt werden? Was besagt denn überhaupt Ursprünglichkeit einer ontologischen Interpretation?

Ontologische Untersuchung ist eine mögliche Art von Auslegung, die als Ausarbeiten und Zueignen eines Verstehens gekennzeichnet



1 Vgl. § 9, S. 41 ff.

2 Vgl. § 6, S. 19 ff.; § 21, S. 95 ff.; § 43, S. 201.


Martin Heidegger - Sein und Zeit