286

denn aber so selbstverständlich, daß jedes Nicht ein Negativum im Sinne eines Mangels bedeutet? Ist seine Positivität darin erschöpft, daß es den »Übergang« konstituiert? Warum nimmt alle Dialektik zur Negation ihre Zuflucht, ohne dergleichen selbst dialektisch zu begründen, ja auch nur als Problem fixieren zu können? Hat man überhaupt je den ontologischen Ursprung der Nichtheit zum Problem gemacht oder vordem auch nur nach den Bedingungen gesucht, auf deren Grund das Problem des Nicht und seiner Nichtheit und deren Möglichkeit sich stellen läßt? Und wo sollen sie anders zu finden sein als in der thematischen Klärung des Sinnes von Sein überhaupt?

Schon für die ontologische Interpretation des Schuldphänomens reichen die überdies wenig durchsichtigen Begriffe von Privation und Mangel nicht aus, wenngleich sie hinreichend formal gefaßt eine weitgehende Verwendung zulassen. Am allerwenigsten ist dem existenzialen Phänomen der Schuld näherzukommen durch die Orientierung an der Idee des Bösen, des malum als privatio boni. Wie denn das bonum und die privatio dieselbe ontologische Herkunft aus der Ontologie des Vorhandenen haben, die auch der daraus »abgezogenen« Idee des »Wertes« zukommt.

Seiendes, dessen Sein Sorge ist, kann sich nicht nur mit faktischer Schuld beladen, sondern ist im Grunde seines Seins schuldig, welches Schuldigsein allererst die ontologische Bedingung dafür gibt, daß das Dasein faktisch existierend schuldig werden kann. Dieses wesenhafte Schuldigsein ist gleichursprünglich die existenziale Bedingung der Möglichkeit für das »moralisch« Gute und Böse, das heißt für die Moralität überhaupt und deren faktisch mögliche Ausformungen. Durch die Moralität kann das ursprüngliche Schuldigsein nicht bestimmt werden, weil sie es für sich selbst schon voraussetzt.

Aber welche Erfahrung spricht für dieses ursprüngliche Schuldigsein des Daseins? Man vergesse jedoch die Gegenfrage nicht: »ist« Schuld nur »da«, wenn ein Schuldbewußtsein wach wird, oder bekundet sich darin, daß die Schuld »schläft«, nicht gerade das ursprüngliche Schuldigsein? Daß dieses zunächst und zumeist unerschlossen bleibt, durch das verfallende Sein des Daseins verschlossen gehalten wird, enthüllt nur die besagte Nichtigkeit. Ursprünglicher als jedes Wissen darum ist das Schuldigsein. Und nur weil das Dasein im Grunde seines Seins schuldig ist und als geworfen verfallendes sich ihm selbst verschließt, ist das Gewissen möglich, wenn anders der Ruf dieses Schuldigsein im Grunde zu verstehen gibt.

Der Ruf ist Ruf der Sorge. Das Schuldigsein konstituiert das Sein, das wir Sorge nennen. In der Unheimlichkeit steht das Dasein ursprünglich


Martin Heidegger - Sein und Zeit