Zeiterfahrung mit Recht festgehalten wird; denn Hegel vermöchte diesen Vorrang dialektisch so wenig zu begründen, wie den von ihm als selbstverständlich eingeführten »Umstand«, daß gerade beim Sich-für-sich-setzen des Punktes das Jetzt auftaucht. Und so versteht denn Hegel auch in der Charakteristik der Zeit als Werden dieses in einem »abstrakten« Sinne, der über die Vorstellung vom »Fluß« der Zeit noch hinausliegt. Der angemessenste Ausdruck der Hegelschen Zeitauffassung liegt daher in der Bestimmung der Zeit als Negation der Negation (das heißt der Punktualität). Hier ist die Jetztfolge im extremsten Sinne formalisiert und unüberbietbar nivelliert1. Einzig von diesem formaldialektischen Begriff der Zeit aus vermag Hegel einen Zusammenhang zwischen Zeit und Geist herzustellen.
1 Aus dem Vorrang des nivellierten Jetzt wird deutlich, daß auch die Hegelsche Begriffsbestimmung der Zeit dem Zuge des vulgären Zeitverständnisses und das heißt zugleich dem traditionellen Zeitbegriff folgt. Es läßt sich zeigen, daß Hegels Zeitbegriff sogar direkt aus der »Physik« des Aristoteles geschöpft ist. In der »Jenenser Logik« (vgl. die Ausgabe von G. Lasson 1923), die zur Zeit der Habilitation Hegels entworfen wurde, ist die Zeitanalyse der »Enzyklopädie« in allen wesentlichen Stücken schon ausgebildet. Der Abschnitt über die Zeit (S. 202 ff.) enthüllt sich schon der rohesten Prüfung als eine Paraphrase der Aristotelischen Zeitabhandlung. Hegel entwickelt bereits in der »Jenenser Logik« seine Zeitauffassung im Rahmen der Naturphilosophie (S. 186), deren erster Teil überschrieben ist mit dem Titel »System der Sonne« (S. 195). Im Anschluß an die Begriffsbestimmung von Äther und Bewegung erörtert Hegel den Begriff der Zeit. Die Analyse des Raumes ist hier noch nachgeordnet. Wenngleich die Dialektik schon durchbricht, hat sie noch nicht die spätere starre, schematische Form, sondern ermöglicht noch ein aufgelockertes Verstehen der Phänomene. Auf dem Wege von Kant zu Hegels ausgebildetem System vollzieht sich noch einmal ein entscheidender Einbruch der Aristotelischen Ontologie und Logik. Als Faktum ist das längst bekannt. Aber Weg, Art und Grenzen der Einwirkung sind bislang ebenso dunkel. Eine konkrete vergleichende philosophische Interpretation der »Jenenser Logik« Hegels und der »Physik« und »Metaphysik« des Aristoteles wird neues Licht bringen. Für die obige Betrachtung mögen einige rohe Hinweise genügen. Aristoteles sieht das Wesen der Zeit im νυν, Hegel im Jetzt. A. faßt das νυν als ὅρος, H. nimmt das Jetzt als »Grenze«. A. versteht das νυν als στιγμή. H. interpretiert das Jetzt als Punkt. A. kennzeichnet das νυν als τόδε τι. H. nennt das Jetzt das »absolute Dieses« A. bringt überlieferungsgemäß χρόνος mit der σφαιρα in Zusammenhang, H. betont den »Kreislauf« der Zeit. Hegel entgeht freilich die zentrale Tendenz der Aristotelischen Zeitanalyse, zwischen dem νυν ὅρος, στιγμή, τόδε τι einen Fundierungszusammenhang (ἀκολουθειν) aufzudecken. – Mit Hegels These: Der Raum »ist« Zeit, kommt Bergsons Auffassung bei aller Verschiedenheit der Begründung im Resultat überein. B. sagt nur umgekehrt: Die Zeit (temps) ist Raum. Auch Bergsons Zeitauffassung ist offensichtlich aus einer Inter-